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Zweck und Selbstzweck oder Erich Fromm für das 21. Jahrhundert?

Kleine Pflanze in einer Hand

Selbstfesselung und die Furcht vor der Freiheit

Der deutsche Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm hat mit seinen Büchern nicht nur immer wieder die überlieferte Wissensformen des westlichen Abendlandes kritisiert, sondern auch ihre Verbindung zu einer modernen Konsumgesellschaft untersucht, die den Menschen seine Selbstfesselung begehren lässt und seine Freiheit fürchten lehrt.

Dabei zielten seine Analysen stets auf die Entfaltung der besonderen Anlagen des Einzelnen in der Gemeinschaft und im Bezug auf sie, aber niemals jenseits einer Hinterfragung ihrer potentiell repressiven Strukturen, die sich nicht selten hinter eine Fassade von illusorischen Versprechungen verbergen. So gab sich Fromm nicht selten in der Pose eines Illusionsbefreiten, der, nun einmal ins Licht der Wahrheit gekommen, angetreten war, auch seinen weniger gesegneten Zeitgenossen und Mitmenschen beim Erkennen und Zerbrechen der Ketten zu helfen.

Industrieanlage
Leben im Industriezeitalter

Heute, immerhin fast vierzig Jahre nach seinem Ableben und der Geburt einer scheinbar gänzlich anderen Welt beiwohnend, muss man sich fragen, was Fromm uns noch sagen kann, ob seine Diagnosen auch unsere Zeit noch treffen, die doch für sich beansprucht vom 20. Jahrhundert weiter entfernt zu sein, als die Neuzeit im Ganzen vom Mittelalter.

Die zwei psychologischen Grundirrtümer der Industriegesellschaft

Um das zu klären, muss man sich zunächst genauer vergegenwärtigen, wogegen sich Fromms Kritik im Detail überhaupt richtet. Im Fokus seiner Kritik stehen, wenigstens in seinem letzten großen Buch Haben oder Sein, die „Verheißung des Industriezeitalters“. Diesem unterstellt Fromm in der Hauptsache auf zwei widersprüchlichen oder nicht einlösbaren psychologischen Prämissen zu beruhen, die er als radikalen Hedonismus und Egoismus bezeichnet und als wünschbare Formungsprinzipien letztlich verwirft.

Es verdient insofern Erwähnung, dass die angezeigten Prämissen zunächst zwar als Grundthesen darüber verstanden werden sollen, was der Mensch ist und wie er ist, sie jedoch zugleich als fundierenden Konzepte der Verwirklichung einer idealen Gesellschaftsordnung bemüht werden, die zum Wohl aller Menschen beiträgt.

Befriedigung aller Wünsche

Während der radikale Hedonismus nach Fromm davon ausgeht, dass die Eudaimonie des Menschen in einem dauerhaften „Maximum an Lustempfindung“ Bestand hat, also in der „Befriedigung aller Wünsche“ und subjektiven Bedürfnisse Erfüllung findet, setzt die These von der egoistischen Natur des Menschen darauf, dass dieser nur durch das Ausleben selbstsüchtiger Triebe Harmonie und Frieden hervorbringen könnten.

Diese Thesen wirken, wenn man sie, derart formuliert, einsieht, schon auf den ersten Blick, wie die fatalen Auswüchse eines kurzsichtigen Wirrkopfes. Es kommt also darauf an, zu erkennen, dass schon diese Formulierungen keinem ersten Blick ausgewachsen sind, sondern in einer umfassenden Analyse wurzeln. Zudem lässt die so gegebene Darstellung einige wichtige Schritte aus, die zum Verständnis des Erfolgs der besagten psychologischen Voraussetzung, die Fromm dem Industriekapitalismus attestiert, unabdingbar sind.

Smiliey auf Boden
Was braucht es glücklich zu sein?

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass die Annahme, die Formel „unmittelbare Erfüllung von Wünschen“ sei mit dem Namen „Lebensglück“ wohlbezeichnet, für viele Menschen überzeugend klingt. Aus eigener Erfahrung wissen sie, oder glauben zu wissen, dass das Prinzip Glück tautologisch ist, und glücklich ist, wem Glück zu Teil wird, dass Lust hat, wessen Lust ungehindert zum Ziel gelangt, dass täglich satt wird, wer im Schlaraffenland lebt.

Diese Kinderweisheit hat folglich die Evidenz des unmittelbaren Affektes für sich. Gegen sie spricht auf kurze Sicht, so scheint es, wenig und erst die Zeit widerspricht ihr resolut. Das gute Leben kann schließlich nur durch die arbeitsame Überwindung von Widerständen erreicht werden.

Das Menschenbild des Industriekapitalismus

Aber auch diesem letzten Satz würde Fromm in dieser Einfachheit wohl nicht rückhaltlos zugestimmt haben. Denn gerade im bürgerlichen Zeitalter bildet dieser nur die Rückseite eine nach hedonistischer Befriedigung strebenden Masse. Nur durch einen immer aufrecht erhaltenen Kreislauf aus zwanghafter Arbeit und unbegrenztem Vergnügen können die unausgesetzte Produktion von Waren und ihr gleichsam entfesselter Konsum einander die Waage halten.

Es besteht also durchaus eine mehr als sublime Komplizenschaft zwischen den ökonomischen Notwendigkeiten des Industriekapitalismus und dessen Menschenbild. Was das realiter für den Menschen bedeutet, ist für Fromm mehr oder weniger unfraglich: ihm bleibt kaum etwas anderes übrig als vom Urlaub zur Routinearbeit zu hetzen, ganz gleich welcher Tätigkeit nachgehend, ständig am Rande des Abgrunds einer in die Verzweiflung treibenden, drohenden Sinnlosigkeit seiner Gesamtexistenz, die von nichts ergänzt werden kann, als von mehr Konsum und mehr Arbeit, gefangen in einer destruktiven Maschinerie, deren Motor der instrumentalisierte Mangel des Individuums bildet.

Der Mangel an Genuss und Freuden, der Mangel an getaner Arbeit, das Ungenügen der Leistung, das nur vom Unvernehmen kurzweiliger Lust aufgewogen wird, sind für Fromm im Grunde genommen nur die Symptome einer systematisch eingerichteten Unfreiheit und Sinnberaubung unter den utopischen Auspizien der Selbstentfaltung.

Mercedes Benz Lenkrad und Luxus Uhr
Hauptsache Haben

Legitimierung des Hedonismus

Doch worin läge Sinn, wenn nicht in der Arbeit? Und wenn wohl doch in Arbeit Sinn zu finden wäre, in welcher Art der Arbeit? Wir werden darauf zurückkommen.

Besprechen wir zunächst die zweite psychologische Prämisse, die Fromm anführt. Diese liefert letztlich die gesellschaftliche Orientierung und ethische Legitimierung des Hedonismus. Denn wenn ich nur nach meinem Glück suche und jeder diesem Prinzip folgend handelt, so kommt doch beinah notwendig jeder findend zu seinem je eigenen Glück. So wenigstens in der Theorie.

Dazukommt, dass die verschiedenen Theoretiker der kapitalistischen Wirtschaftsform, weil sie glaubten, ein moralphilosophischen Problem lösen zu können, das erst durch ihre Setzungen entstanden war, eine übergeordnete Distributionsinstanz erfanden, die auf zauberhafte Weise Gerechtigkeit und egoistische Strebung versöhnen würde. Die Rede ist vom sogenannten Markt, dessen unsichtbare Hand im Zuge der Preisbildung ganz von alleine die Begünstigung allen menschlichen Lebens zur Folge haben müsse.

Der Markt und Moral

Der Markt, eine Art okkasionalistische, säkularisierte Gottesvorstellung, erlaubt somit die moralische Dürftigkeit der Habgier zu neutralisieren und sie im Gegenteil zum sozial noblilitierbaren Grundsatz des menschlichen Wesens zu erheben.

Für die Überzeugungskraft des Arguments ist insbesondere diese Operation von kaum zu überschätzender Wichtigkeit: nicht allein die unversalisierte Habgier führt zu gesellschaftlicher Begünstigung aller und letztlich zu Frieden und Harmonie, erst diese eingebunden in ein Netzwerk soteriologisch-ökonomischer Institutionen garantiert, was zu garantieren, jede menschliche Gesellschaft sich vorsetzen muss: das Glück der größten Zahl und das gewaltlose Zusammenleben der Vielen.

Markthalle
Ist der Markt die Lösung?

Fromm entlarvt diese Fiktion fast schon mühelos, indem er darauf hinweist, dass Habgier keineswegs nur ein oberflächliches Verhalten darstellt, sondern einen bestimmten Charaktertypus ausmacht, der alles für sich haben möchte, für den nicht Teilen, sondern Besitzen Erfolg bedeutet und der, weil ein Aneignen und Haben sein Charakterziel ist, immer habgieriger werden muss, weil er immer zu sein glaubt, je mehr er in seiner Gewalt hat.

Dies führt letztlich dazu, so Fromm, dass alle Mitglieder der Menschenfamilie zu Konkurrenten und potentiellen Feinden werden, die es abzuhängen, zu betrügen und auszubeuten gilt. So kann das egoistische Subjekt letztlich nie zufrieden sein oder gar Trost beim Anderen finden, weil es immer mehr haben muss, um überhaupt etwas vorzustellen, um besser zu sein, als dieser, um für sich und andere ein Jemand zu sein, von dem es sich selbst ständig einreden muss, es wäre noch fähig zu ihn zu verkörpern.

Gegenentwurf: Selbstentfaltung, Arbeit, Hingabe

Wir haben nun die für Fromm wesentlichen Paradoxien am Grund der bürgerlich-industriellen Gesellschaftsordnung veranschaulicht, dabei aber gewiss Fragen offen, Fäden unverknüpft gelassen, die es jetzt zu vertäuen, die es nun zu beantworten gelten wird. Vor allem steht da im Hintergrund die Frage, was Fromm dem Scheitern der beschriebenen Ordnung entgegensetzt.

Dann weiter, die Frage an diese anschließend, könnte nicht doch in der Arbeit das Bruchstück eines Gegenentwurfs gefunden werden? —Schließlich hatte doch Fromm selbst noch in der Kunst des Liebens im Jahre 1956 die Liebe als eine Form nicht des kurzweiligen Gefühls, sondern der kontinuierlich fortgesetzten Arbeit lobend hervorgehoben und sie ins Herz seiner Theorie der persönlichen und gesellschaftlichen Erhebung zur Freiheit geschrieben.

Zu Beginn hatten wir angedeutet, dass Fromms Schriften beharrlich um die Evaluation der Möglichkeiten und Potentiale des Einzelnen kreisen, seine persönlichen Anlagen zu entfalten.

Dann später haben wir, in scheinbarem Widerspruch hierzu, zu verstehen gegeben, dass auch der Industriekapitalismus sich des Zauberworts der Selbstentfaltung bemächtigt, diese als Integral der industriellen Gesellschaftsordnung aber der durch Fromm vorgenommenen Kritik preisgegeben.

Mann schaut auf iPad mit Diagrammen
Sinnvolle Arbeit?

Was ist Selbstentfaltung?

Der angezeigte Umstand verweist darauf, dass Fromm etwas gänzlich anderes unter Selbstentfaltung verstanden wissen will. Gerade hierin liegt eine für den unbedarften Betrachter womöglich verwirrende Eigenheit der Aussagen, Theoreme und Publikationen Fromms; lässt er doch die Begriffe nicht einfach fallen und zerstört auch nicht sie selbst und die Hoffnung, die sie machen.

Weit davon entfernt ein Prediger der Hoffnungslosigkeit zu sein, greift er im eigentlichen Sinne nur ihren psychologischen Überbau an, der ihnen selbst nur akzidentiell zukommt, und versucht sie aus diesem heraus in einen veränderten Horizont einzuschreiben.

Das ist Selbstentfaltung.

Was aber bedeutet dann Selbstentfaltung für Fromm, wenn sie nicht die einfache Erfüllung unmittelbarer Wünsche und Lüste ist, wenn sie nicht in der Verwirklichung eines vermeintlich ursprünglichen Aneigungstriebes liegt? Um das klar und deutlich aussprechen zu können, wollen wir uns noch einmal dem Phänomen der Arbeit zuwenden. Auch diese war ja, wir erinnern uns, unter den Vorzeichen des Industriekapitalismus von nicht geringem Schaden für Individuum und Gesellschaft.

Für Fromm jedoch ist es nicht die Arbeit an sich, sondern die Arbeit als Mittel, die diese schädliche Bedeutung in sich trägt. Die Arbeit als Mittel richtet sich auf einen Zweck. Wir arbeiten, um zu haben; malochen, um Urlaub zu machen, um mehr zu verdienen, als Nachbar und Konkurrent.

Mann sitzt vor einem sonnigen Fenster und arbeitet.
Liegt in der Arbeit die Erfüllung?
Quelle: unsplash.com

Diese Arbeit führt, wie man leicht einsieht, entsprechend der von Fromm vorgetragenen Kritik, zu nichts anderem, als Trostlosigkeit, weil sie Arbeit zum Haben ist und ein Haben-Wollen in Herrschaft setzt, das letztlich bodenlos und unbefriedigbar ist, aber auch, weil die Arbeit als Mittel, immer nur also notwendige Qual erscheinen kann, die zur heilsamen Entlastung führt und entsprechend der zirkulären Dialektik, die hier am Werk ist, zur notwendigen Qual zurückkehren muss, um diese nur wieder verlassen zu können. Gefangen in diesem teuflischen Zirkel kann der Mensch keine Ruhe finden, vor allem aber wird er, wie Fromm sich ausdrückt, nie dahin gelangen, etwas zu sein.

Was bedeuted es jemand zu sein?

Nun, was bedeutet es etwas oder jemand zu sein und welche Arbeit würde hierfür qualifizieren, wenn es denn noch erlaubt sein kann, hier von eine Qualifikation zu sprechen? In Inversion des aufgewiesenen Schemas versucht Fromm, eine Arbeit zu entwerfen, die selbst Zweck ist ohne selbstzweckhaft zu sein. Was aber bedeutet das?

Im Eigentlichen wenigstens zwei Dinge: meine Arbeit wird, ganz gleich aus welchem Grund ich sie verrichte, zu einer Zurichtung meines Charakters. Mein Tun bestimmt das, was oder wer ich bin, meine Handlung wird mein Sein.

Das gilt selbst, wenn sich meine Arbeit aus dem Quell der Habgier speist, denn auch ein auf Haben gerichtetes Sein, bleibt ein Sein. Die titelgebende Alternative von Haben oder Sein ist in Wirklichkeit nur einseitig nicht gegenseitig ausschließlich: nur ein Tun, das auf ein Sein hinausgreift, suspendiert die Zwänge des Habens, diese aber niemals die Menschennotwendigkeit zu sein, sofern und sobald man einmal geboren ist.

Mensch sitzt vor einem Laptop. Man sieht nur seine Silouette. Man erkennt er sitzt im Profil zum Betrachter.
Notwenigkeit und Existenz
Quelle: unsplash.com

Es geht folglich um zwei verschiedenen Existenzweisen, die operativ, das heißt über ihr Verhältnis zur eigenen Tätigkeit gekennzeichnet und analysiert werden. Das bedeutet aber auch, dass eine Arbeit, die nicht Mittel zum Zweck, sondern selbst Zweck ist, zugleich das Sein des Selbst, sprich seine Entfaltung, zum Zweck hat. Die „Selbst-Zweckhaftigkeit“ der Arbeit übersteigt sich immer schon und wird zur Gestaltung des Individuums.

Solipsismus und Industriegesellschaft

Nun liefe all dies aber wiederum auf eine Art Solipsismus hinaus, der demjenigen des gefeierten Bürgertums und der eifrigen Industriegesellschaft nicht unähnlich wäre, wenn Fromm Arbeit und Sein des Einzelnen nicht grundsätzlich in seiner Beziehung zum Nächsten und Anderen befestigen würde. Eine Arbeit, die selbst Zweck ist und daher, wie wir gesagt haben, auch das Sein des Selbst zum Zweck hat, weil letzteres aus der Tätigkeit ableitet, kann nie isoliert betrachtet werden.

Menschen leben nicht im Cartesianischen Vakuum der Kogitation, sondern erfahren sich selbst in der Begegnung, Berührung und Beziehung mit anderen. Sie sind fundamental Relationswesen und ihre Arbeit strukturell schon Instanziierung von Bezüglichkeit.

So war auch die Arbeit als Mittel ein Weg zum Anderen, der diesen allerdings als mir potentiell feindlich gesinnten Gegenüber setzte, der mit mir in einer Art „Nullsummenspiel“ um eine zu ergreifende Habe rang, wenn die Wechselfälle seiner Bahnung ihn nicht zufällig zum zeitweiligen Komplizen meiner Habgier machten, den allerdings auch dann nichts daran hindern konnte, mich im nächsten Moment zu hintergehen, weil schließlich auch sein Antrieb allein in der Lust Lust zu haben und in der Gier zu haben, was es eben zu haben gibt, wurzelte.

Die Arbeit als Mittel war der Knoten eines Weges, dessen tautologische Pfadabhängigkeit, wenigstens aus sich heraus, nicht übergangen oder zerschnitten werden konnte. Was versprach einen paradiesischen Zustand auf Erden einzurichten, führte geradewegs zur Einkreisung einander feindlicher Individuen.

Kind auf Leiter greift Richtung Himmel
Wonach sollen wir streben?

Liebe – eine Form der Arbeit

Ganz anders die von Fromm skizziert Arbeit als Zweck. Das wird ersichtlich, wenn wir, wie Fromm dies getan hat, beginnen, die Liebe als eine mögliche Form von Arbeit zu verstehen.

Dann ist die Arbeit Hingabe an ein Sein-Wollen, das sich notwendig auch auf das Sein des jeweils Anderen bezieht, diesen in seinen Ängsten und Bedürfnissen wahrnimmt, um ein gemeinsames Sein zu verwirklichen. Die Liebe als Haben, implizierte im Gegenteil den anderen einer possessiven Struktur folgend, kontrollieren zu wollen, über ihn zu verfügen. Das Sich-Geben oder Sich-Hingeben wäre dieser Habenslogik nach nichts anderes als Verschwendung.

Aber auch, wenn wir nicht die Liebe — ein anfänglich wahrscheinlich recht ungeeignet wirkendes Beispiel — zur Veranschaulichung heranziehen, können wir erkennen, worin sich die Arbeit als Zweck sowohl in ihrer Beziehung zum Anderen, wie auch reflexiv unterscheidet: eine Arbeit als Zweck ist nicht notwendige Qual, sondern in sich erfülltes und erfüllendes Tun: ich tue sie, weil sie in meinem Sein, der Art wie ich bin, wurzelt, und auf diese zurückgeht.

Zufriedenheit

Ich verstehe sie als höchste Bestätigung dessen, der ich für mich bin und für andere. Ihr nicht nachzugehen, wäre eine Qual, weil ich mich fühlte, als würde ich mich selbst verraten. So reicht mein Tätigsein, das sich aus den Zielen, die ich entsprechend meines Verständnisses von mir selbst habe, ableitet, um zufrieden zu sein.

Lilanes Feuerwek.
Zufriedenheit
Quelle: unsplash.com

Gleichwohl handle ich nicht, um zufrieden zu sein, sondern ohne äußeren Zweck, weil mein Sein es mir gebietet. Das Tun selbst muss mit seiner Teleologie koinzidieren, der Akt der Zweck sein. Somit dürfte klar werden, was gemeint war, wenn wir davon sprachen, Fromm sei durchgängig der Selbstentfaltung des Einzelnen nachgegangen. Es bedeutet, dass sich das Sein des Selbst zum Zweck verwandelt, der sich in seinem bloßen Tätigsein erfüllt.

Evaluation: Was Zwecklosigkeit heute taugt

Innerhalb von Fromms eigener Logik lässt sich die Frage nach der Tauglichkeit des Zwecklosen, nach dem Zweck des Zwecklosen, im Horizont der gegenwärtigen Entwicklungen kaum stellen. Dennoch wird man leicht einsehen, dass Fromms Elaborate alles andere als interesselos sind. Alle seine Formulierungen lassen hinlänglich darauf schließen, dass er die Industriegesellschaft für schwer pathologisch, für krankhaft und elend hält.

Sein Programm ist Anmahnung einen dringend notwendingen und tiefgreifenden ethischen und sozialen Wandel zu vollziehen, sich abzuwenden, von den längst enttarnten Verheißungen.

Wenig lässt vermuten, dass Fromm diesen Wandel heute vollzogen sehen würde. Viel näher liegt die Annahme, er würde in unserer heutigen Welt eine Verschärfung der selben krankhaften Prinzipien wiederkennen, deren Ätiologie er zu schreiben versuchte. Und ist nicht wirklich heute alles einer allgegenwärtigen Logik des Habens unterworfen, die uns als quantified self noch bis ins Letzte auf eine Habgier abrichtet, jede unserer Bewegungen zu einem Zweck gerinnen lässt, der nicht unserer sein kann, Schönheit auf eine auf Instagram und anderen Plattformen kommodifizierbare narzisstische Zweckmöglichkeit reduziert, Bildung zum Erwerbszweck stempelt, der auf LinkedIn mundgerecht kursiert werden kann und das, was man spiritual growth nennt, zu einer allseits ausstellbaren kompensatorischen Leistungsqualität herabsetzt?

Ein weißes Iphone mit diversen Social Media Apps.
Narzisstische Zweckmöglichkeiten

Schon allein in diesem Sinne scheint die von Fromm vorgeschlagene Koinzidenz von Zweck und Akt in Bezug auf das Sein des Selbst überzeugend. So erstaunlich es sein mag, man wird den Eindruck kaum los, dass Fromm auch unserer Zeit ein Lehrer sein könnte. Nur steht wohl, und dies sei mit der Überschrift dieses Passus angedeutet, zu befürchten, dass selbst die scheinbare Zwecklosigkeit ohne Weiteres als kompensatives Element in einen ganz und gar unter dem Regime des Zwecks stehenden Lifestyle integriert werden könnte.

Zweck von Haben und Egoismus

Es gilt sich zu vergegenwärtigen, dass sich Fromm ja auch nicht gegen Zwecke als Zwecke richtet, sondern gegen äußerliche Zwecke, die Teleologie des Habens und des Egoismus. Was bei ihm unausgereift scheint, ist hingegen eine kollektive Teleologie des Seins. Auch bei ihm scheint sich die Relationalität des Individuums aus dessen Sein zu ergeben und keiner weiteren Spezifizierung zu bedürfen.

Es bleibt mithin unterbeleuchtet. Orientieren wir uns an den Andeutungen, die sich immer wieder auffinden lassen: diese finden ihre Mitte primär in der amourösen und das heißt liebenden Beziehung. Nun steht auch für Fromm fest, dass ich nicht jeden lieben kann, Liebe vielmehr so selten ist, wie das zwecklose Zusammensein zweier Menschen.

Erbärmliche Utopien

Diese Erwägung zwingt uns zu denken, was sich bei Fromm bisweilen zu widersprechen scheint: dass eine liebesähnliche Regung zwischen Menschen auf der Basis gemeinsamer Abhängigkeiten entwickeln könnte, die bejaht werden, als ein äußerer Zweck, dem man den Namen des Friedens geben könnte, der Harmonie oder — weitaus pragmatischer —der kontinuierlichen Lösung immer wieder auftretender, nie letztgültig auszumerzender Problemstellungen.

Die Erbärmlichkeit jeder Utopie liegt in ihrer je eigenen Figurationen eines weltfremden Zustandes erledigter Probleme.

Statuen mit einem Lichteinfall von oben.
Die Kunst des Liebens – eine Utopie

Fromms Ausführungen laufen weder in Haben oder Sein noch in der Kunst des Liebens auf eine Utopie hinaus. Man kann dennoch kaum bestreiten, dass ihnen ein soteriologischer Ruch anhaftet. Wer aber sollte schon wollen können, ohne Heil zu wollen? Nur mache man es sich hiermit nicht zu einfach; dieses ist, wenn man der Geschichte trauen darf, nicht mehr als das episodische Resultat einer unabschließbaren Abfolge von Problemlösungen.

In dieser darf auch ein Zweck, der nicht mit dem Akt koinzidiert, nicht zu den ausgeschlossenen Mitteln gehören, sondern könnte eine solide Basis kollektiver Aktivität bleiben, sofern er sich mit den bejahten gegenseitigen Abhängigkeiten der Individuen voneinander verbindet.

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