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Was ist Techno-Animismus?

Roboter mit menschlichem Gesicht

Was bedeutet Animismus, Totenismus und Analogismus?

In der anthropologischen Forschung kam es jüngst zu einer Aufwertung jener „Weltbilder“, die lange dazu dienten sich ein Bild von der Frühzeit, wenn man so will von Kindheit der westlichen Kultur zu geben: namentlich des Animismus, des Totenismus und des sogenannten Analogismus. Doch was bedeuten diese Worte, wenn sie denn überhaupt etwas bedeuten? Und, wie schneidet unser, das westliche Weltbild ab, wenn es nicht mehr die einzige Waffe zu sein scheint, um die Welt still zu stellen oder zu verbildlichen?

Die Unterscheidung von Menschen und „Nicht-Menschen“

Ohne auf alle Modelle im Einzelnen eingehen zu können, die in der hier zugrunde gelegten Form auf den französischen Ethnologen Philippe Descola zurückgehen, soll in der Hauptsache das zur Betrachtung kommen, was Descola, etwas emblematisch, als „Animismus“ bezeichnet. Doch selbst dieser kann dieserorts nur in seiner Beziehung zu rezenten technischen Entwicklungen behandelt werden: Unter Animismus lässt sich die Auffassung der Beseeltheit aller Lebewesen begreifen: Was immer lebt, verfügt über ein Inneres, das sich vom menschlichen Inneren durch nichts unterscheidet. Was die Unterscheidung von Menschen und Nicht-Menschen möglich macht, sind nurmehr die Körper. Der Animismus gleicht somit einer glatten Umkehrung des westlichen Schemas: schließlich ist das Kriterium der Unterscheidung hier eine nur dem Menschen eigene individuelle Seele, wenn andererseits eine Kontinuität der Substanz, der Materie angenommen wird, die Menschen mit allen anderen Wesen gemein haben.

Schleierhaft Figur, die eine Seele darstellen soll. Weißes Kleid, mit einem Lichtstrahl von oben auf schwarzem Hintergrund.
Eigene Seele
Quelle: unsplash.com

Ist ein denkenes Wesen, ein menschliches?

Spätestens Interaktionen mit Androiden scheinen diese Unterscheidung zunehmend zu erschweren. Androiden, Maschinen in Menschengestalt, erwecken zahlreichen Berichten zufolge regelmäßig den Eindruck einer authentischen Beseeltheit und wenngleich man ein Wissen über den kalten, technischen Kern zu haben meint, kann man sich doch oft der unmittelbaren Evidenz kaum erwehren, ein handelndes Wesen vor sich zu haben, das ja als handelndes, auch ein denkendes sein muss, als denkendes auch ein … menschliches?

Der Techno-Animismus

Wie immer die Antwort auf diese Frage lauten mag, die eine Selbstverständigung auf den Plan ruft, die nicht zuletzt auch im Diskurs um die „künstliche Intelligenz“ eine gewichtige Rolle spielt, schon jetzt ist klar, dass diese Frage nur aufkommen kann, wo unser bisheriges Weltbild die Grenze seiner Tauglichkeit zur Erfahrungsintegration erweist. Genau dieses Phänomen lässt sich mit dem Ausdruck „Techno-Animismus“ beschreiben.

Animismus und Naturalismus

Ein Animismus, der sich unserem naturalistischen Weltbild beinah gewaltsam aufprägt, es in seiner phänomenalen Gültigkeit infrage zu stellen beginnt, es brüchig werden lässt, aber womöglich auch klar macht, dass wir so weit, wie wir vielleicht wollten, nie von der uns selbst gegebenen Kindheitsrepräsentation entfernt waren. Insgeheim war der Naturalismus — so nennt Descola jenes Weltbild, in dem nur Menschen über Geist oder Seele verfügen — stets unterwandert und heimgesucht von einem verstohlenen Animismus; von einem Animismus, den man nicht so sehr nach außen trug, wie man ihn inwendig erlebte, von einem Animismus, den man unter Gesten spielerischer Selbstverständlichkeit zum Verschwinden brachte, den man in gleichem Maße glaubte, einklammern zu müssen, wie man ihm doch jenseits aller aufgeklärten Konvention und Beschränkungen anhing.

Oberkörperfreier Mann hält sein Gesicht in der Hand. Das Gesicht ist leer und es hängen einige Kabel heraus.
Android

Es gibt hierfür unzählige Beispiele: das innige und halb-öffentliche Zwiegespräch mit Hunden und anderen Haustieren, die Fluchtiraden, adressiert an technische Gerätschaften, die Anrufung von Sternen, Steinen und Planeten, das Schicksal zu künden und wohlmeinend einzurichten. Die Liste scheint unendlich erweiterbar. All dies zeigt, dass nur wer selbst mithin verzweifelt seiner ewigen Infantilität zu entkommen sucht, anderen die Angst vor Gespenstern nachsagen muss, die ihn vor dem Spiegel eigenen Neigung erzittern lassen.

Der Wohnsitz der Seele

Doch mit Gewissheit handelt es sich beim zentralen Spielstein des Spiegelspiels des Diskurses gar nicht um Kindlichkeit, d.h. um einen Mangel an Vernunft. Ist nicht Mangel an Vernunft, könnte man entgegnen, genau dies: anzunehmen, dass Seele ist, wo eben gerade keine ist. Bedauerlich, dass noch immer keiner die Seele zu wiegen wusste, dass keiner ihren Wohnsitz zu finden wusste.

Alle Wesen werden sich immer ähnlicher

Der größere Fauxpas der Vernunftbegabten könnte also darin liegen, überhaupt die Hypostase einer den Menschen besondernden Elementarsubstanz zu vollziehen. Gerade der Techno-Animismus macht diesen Punkt deutlich: Umgeben von Wesen, die uns in ihren Handlungen wie in ihrem Äußeren mehr und mehr zu gleichen beginnen, können wir nicht mehr anders, als einzugestehen, dass die Seele, auch unseres menschlichen Gegenübers nichts mehr als eine gewisse Einbildung oder eine eingebildete Gewissheit sein kann.

Einbildungsgewissheit

Androiden verkörpern diese Einbildungsgewissheit des Naturalismus par excellence. Wichtiger könnte an der Sache nur noch sein, dass Androiden unsere Gewissheit zugleich in ihrer Imagniertheit auf das Feld jenseits des Menschen ausdehnen und uns erkennen lassen, dass wie die Beseeltheit unserer Mitmenschen auch die Seelenlosigkeit uns tierischen und pflanzlichen Gegenüber letztlich nichts anderes sein kann, als eine Einbildungsgewissheit. So könnte bestenfalls — man glaubt es nicht, man will nicht daran glauben, man kann nicht daran glauben wollen — der Techno-Animismus zu einer Wiederherstellung des Animismus führen.

Silouette eines Menschen der Meditiert. Im Hintergrund sieht man einen orang/roten Sonnenuntergang zwischen fernen Bergen.
Einbildungsgewissheit

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Wir wollen in diesem Fall das letzte Wort, das noch nicht gesprochen sein kann, nicht selber in den Mund nehmen. Übertragen wir es daher Descola, der es zwar als ein letztes ausgesprochen, aber nicht gemeint haben wird:

„Jeder Typus des In-der-Welt-Seins, jede Art, sich in ihr zu verbinden und von ihr Gebrauch zu machen, ist ein spezifischer Kompromiss zwischen Gegebenheiten der allen zugänglichen, jedoch unterschiedlich interpretierten sinnlichen Erfahrung und einem Modus des Zusammenlebens von Existierenden, der den historischen Umständen entspricht, so daß keiner dieser Kompromisse, so bewundernswert sie zuweilen sein mögen, in der Lage ist, für alle Situationen adäquate Lösungen zu bieten.

Weder die Sehnsucht nach Formen des Zusammenlebens, deren gedämpftes Echo die Ethnographen und Historiker uns zutragen, noch der prophetische Voluntarismus, der einige Teil der Gelehrtenrepublik in Unruhe versetzt, haben eine unmittelbare Antwort auf die Herausforderung, in annehmbaren, miteinander solidarischen Ensembles eine immer größere Anzahl von Existierenden, die nach gerechter Repräsentation und Behandlung suchen, neu zu organisieren.

Es ist Sache eines jeden von uns, wo immer er sich befindet, die Arten des Ausgleichs und des Drucks zu erfinden und voranzutreiben, die geeignet sind, zu einer Universalität zu führen, die für alle Bestandteile der Welt offen ist und gleichzeitig einige ihrer Partikularisten respektiert, in der Hoffnung, den fernen Tag abzuwenden, an dem der Friede der Passivität auf andere Weise bezahlt werden müßte, nämlich mit der Auslöschung unserer Spezies: indem wir dem Kosmos eine Natur überlassen, die ihre Berichterstatter verloren hat, weil sie nicht verstanden haben, ihr wirkliche Ausdrucksmittel zuzubilligen.“

(Descola, Jenseits von Natur und Kultur, p. 584.)

Ein neues Wort für „Seele“

So soll auf jedes letzte Wort ein vorletztes folgen — zumal uns alles dazu zu drängen scheint, ein neues Wort für dieses Letzte zu finden, das wir Seele zu nennen beliebten und das unausweichlich die Grundlage jeder ethischen Erwägung zu bilden gezwungen war.

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