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Nostalgische Betrachtungen, Betrachtungen der Nostalgie

Regal mit alten Elektrogeräten.

Homer’s Sehnsucht nach Heimkehr

Das Phänomen der Nostalgie scheint so alt wie die Kultur der Menschen. Schließlich dreht sich schon Homers Odyssee ganz um die Fährnisse und Umwege eines zur Heimkehr aufgebrochenen, dessen Kompass fern der Heimat nur die Sehnsucht nach dieser selbst und die göttlich Leitung der ihm wohlgesonnenen Athene sind.

Man kann nicht umhin aus heutiger Perspektive eine gewisse Beschaulichkeit zu empfinden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Odysseus’ Wiederkehr zu keinem Zeitpunkt seiner Reise im Eigentlichen Sinne gefährdet ist: er wird angekommen sein und in einer beinahe symbolisch zu nennenden Zusammensetzungsoperation alles auseinander gebrochene zum guten Ende und zur gerechten Einheit gefügt haben.

Nur was verloren ist, berührt unsere Angst

Wo Heimweh ist, muss Heimat werden, hieß es für die Griechen der homerischen Antike. Andererseits scheint ein historischer Normalfall darin zu bestehen, dass immer dann, wenn im eigentlichen Sinne das Eigene und Heimatliche verloren zu gehen droht, dieses besonders ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit rückt. Als ob was verloren gegangen ist, nur darum auf einmal gewonnen wäre, wenn auch als Verlorenes, als Verlustgewinn oder Trostpreis. Muss – oder kann man sogar – bloß für Verlorenes kämpfen? Nur, was verloren gehen kann, vielleicht schon verloren ist, betrifft uns jedenfalls, erregt unsere Sorge, berührt unsere Angst.

Mensch mit dem Rücken zum Betrachter, auf einem Holzsteg bei Nacht. Alles ist dunkel bis auf die Straßenlaternen, die den Steg anleuchten.
Wo Heimweh ist, muss Heimat werden.

Verherrlichung des Einfachen – Lösungssehnsüchte

Und so nimmt es kaum Wunder, dass auch gegenwärtig überall, wenn auch unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen, das Lokale und das Verlangen nach einem Ort des Hingehörens und der Ursprünglichkeit wieder eine Renaissance zu erfahren scheinen. Das Lokale oder Regionale kommen dabei nicht selten einer Art Heilsversprechen gleich, dem Wunsch nach Läuterung und Katharsis vermittels einer kategorischen Abwendung von den allzu komplexen Zusammenhängen und undurchsichtigen Verstrickungen, deren Undurchsichtigkeit für viele schon hinreicht, ihre Dubiosität zu verbürgen. Damit ist ein erster Grund genannt, der überdeutlich Boden gibt, für die gewaltige nostalgische Ergriffenheit unserer Zeit: die wuchernde Komplexität unseres Alltagslebens drängt uns zur Verherrlichung des Einfachen, weil dieses von ihr verschluckt zu werden droht.

Das weitverbreitete Idyllenbild eines selbstversorgenden Lebens auf dem Land, vor allem in urbanen Zentren beliebte Seminare zum verantwortungsvollen Konsum digitaler Medien sowie das weltweite Aufkommen rechtsradikaler, wenigstens aber souveränistischer politischer Bewegungen, sind nur einige der Variationen, die dem Bedürfnis nach simplen Lösungen in einer immer schwieriger zu verstehenden Welt ausgewachsen sind.

Aufgrund dieser Schieflage, diesem Missverhältnis von Komplexität der Problemlagen und Einfachheit der zur Behebung aufgerichteten Ideen, wirken letztere meist eher wie Erlösungs- als wie Lösungssehnsüchte, wie Formen von Ersatzreligion für Komplexitätsüberwältigte.

Die Gemeinsamkeiten der Phänomene

Das soll keineswegs bedeuten, dass kein Unterschied dazwischen bestünde der AfD beizutreten und realiter Heimatverlustigen die Möglichkeit auf Zuflucht und Asyl verwehren zu wollen oder post-studentischen Bioobstanbau in Kommunen im Hunsrück oder sonst wo zu betreiben.

Es fällt jedoch schwer die Gemeinsamkeit zu übersehen, die zwischen beiden Phänomenen bestehen, wenn man von der inhaltlichen Ausgestaltung einmal absieht und sich stattdessen ihre strukturelle Beschaffenheit vor Augen stellt, was letztlich bedeutet, sie in den Horizont der aktuellen Krisenlagen und Großumwälzungen einzurücken.

Drei Hände verschiedener Ethniken reichen sich die Hand in Wasser.
Die Möglichkeit auf Zuflucht und Asyl.

Die Digitalisierung, der Feind?

Zu diesen Umwälzungen zählt zweifellos auch die sogenannte „Digitalisierung“: Gewiss, Digitalisierung bezeichnet ein präzedenzloses Entortungsgesehen; translokal verfügbar zu sein, hätte zwar in der Theorie bedeuten können, das Gottesattribut der Allgegenwart zu erobern, scheint den Menschen allerdings de facto vielmehr in den Abgrund des Pandämoniums einer massiven Ortlosigkeit zu stürzen. Dass mancher wie verzweifelt einen Feind sucht, der für diese digitale Kollateralentwurzelung verantwortlich zeichnet, liegt daher nahe.

Wie Antoine de Saint-Exupéry in seinem Meisterwerk Citadelle geschrieben hat, gibt der Feind Halt, er gleicht einer Mauer, an die man sich lehnt. Doch Mauern zu bauen, in einer Welt, die den Raum längst mit einem unsichtbaren Distributionsnetzt durchzogen hat, scheint allerhöchstens noch von symbolischem oder identitätskonsolidierendem Wert. Der Feind gibt eben tatsächlich unserer eigenen Frage Gestalt. Man hat jedoch vergessen hinzuzufügen, dass er das nicht tut, ohne der Frage ihren denkwürdigen Leib zu rauben und sie somit einem bequemen Vergessen preiszugeben.

Der Klimawandel

Besagter technischer Sündenfall wird noch verstärkt, durch das, was schon seit langem unter dem Namen „ökologische Krise“ firmiert. Diese Krise deutet nicht zuletzt auch auf ein Problematischwerden angestammter Wohnräume des Menschen, ja auf eine regelrechte Wohnungsnot im übertragenen und buchstäblichen Sinne. Spätestens wenn Holland und Fidschi im Meer verschwunden sind — sofern es denn wirklich so weit kommen sollte — muss dies auch den sogenannten Klimaskeptikern und sonstigen Befürwortern einer ökologischen Kleptokratie einsichtig werden.

Aber schon jetzt gibt es Klimaflüchtlinge und selbst zurückhaltendere Prognosen gehen von der zukünftigen Expansion dieses katastrophalen Sachverhalts aus.

Die Flucht nach vorne

Sichtbar wird angesichts dieser Ausführungen jedenfalls, wie hinfällig alle Erlösungssimplizitäten und Lösungsstrebungen, die sich auf einen bloß lokalen eigentlichen Raum beschränken, bleiben müssen. Sie gleichen vielmehr Eskapismen, sind Sigel über der Ohnmacht eines modernen Subjekts, dem die Flucht nach vorne, in die Welt und durch die Welt mit den Mitteln des „Fortschritts“ nicht mehr so recht gelingen will.

Ein Mann rennt auf eine nebelige Stadt zu, hinter ihm sind Hügel mit verschiedenen Blumen. Vor Ihm eine moderne Stadt, die in das Orange der Sonne getaucht ist.
Die Flucht nach vorne durch Fortschritt.
Quelle: unsplash.com

Die moderne Krise

Doch was ist zu tun, wenn nichts hilft, was tun, wenn weder Rück- noch Fortschritt einen gangbaren Weg bahnen? Krisen, wie die Krise der Lokalität und der Ökologie, denen wir augenblicklich beiwohnen, lassen sich immer schon als Zuspitzungen verstehen, die den bisherigen modus vivendi, unsere Art zu leben und zu sein von Grund auf infrage stellen, den Weg einer Sackgasse zuführen, seine Weiterführung mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit als unmöglich anschreiben.

Weder business as usual noch business as before können somit als hinreichende Handlungsvariationen gelten, eine vollständige Geschäftsaufgabe jedoch ebensowenig.

Trügt der Schein?

Vielleicht haben wir es einmal mehr mit nichts weniger als mit einem Handel zu tun, wenngleich es so aussieht, als ob wir gezwungen sind auf schnellstem Wege zu handeln. Ob der Schein trügt?

Es kommt darauf an, zu verstehen.

Aber ist denn nicht jedes Handeln unzweifelhaft Ausdruck eines schon vorgängigen Verstehens, wenigstens aber Ausdruck eines Verstehens, das den Zweifel und das mit diesem verbundene Zaudern hinter sich lässt? Den Zweifel hinter sich lassen, hieße das nicht gleichsam einen Schnitt setzen im verworrenen Gewebe der Verstrickungen? So wenig erbaulich das klingen mag, hier Antworten zu geben, wäre das nicht nichts anderes als eine einfache, allzueinfache Lösung? — Wer blind wählt, dem schlägt Opferdampf in die Augen. Allein, wer nicht wählt, wählt der nicht dennoch, womöglich wählend nicht zu wählen?

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