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Die Wiederkehr des Absolutimus der Wirklichkeit im Anthropozän

Grafitty von einem Menschen mit selbst angeklebten Engelsflügeln, der einem Sack Geld nachrennt, welcher an einer Angel über seinem Kopf befestigt ist. An seinem Fuß sieht man eine Fessel.

Quelle: https://unsplash.com/photos/W4rSsAtrxLY

Für den großen, deutschen Philosophen Hans Blumenberg war die vor-zivilisatorische Situation des Menschen durch eine Art „Absolutismus der Wirklichkeit“ gekennzeichnet. Umgekehrt bedeutete das für ihn, dass die verschiedenen, einander ablösenden Epochen der Menschheitsgeschichte nur jeweils eigene Variationen einer Pragmatik waren, die darauf aus sein musste, die Wirklichkeit auf Distanz zu halten und ihre etwaigen unheimlichen Formen in greif- und beherrschbare Zeichen zu verwandeln.

Der Begriff der Wirklichkeit

Blumenberg selbst neigte dazu den Begriff „Wirklichkeit“ als eine Art Platzhalter zu verwenden, um ihre historisch-spezifischen Ausformungen im Zuge der Behandlung des konkreten Falls an seine Stelle treten zu lassen. „Wirklichkeit“ diente ihm in dieser Hinsicht als ein Wort, mit welchem sich das auf Distanz zu haltende anzeigen ließ, ohne seine je besondere, geschichtliche Prägung zu überdecken.

Der Ausdruck fungierte folglich als schematische und daher nur historisch zu füllende Hohlform. Nicht von ungefähr könnte also einen heutigen Leser das Gefühl beschleichen, wo Wirklichkeit war, solle Natur werden. Andere Zeiten andere „Wirklichkeiten“; andre Zwänge, Probleme und Bedrängnisse, die es abzuwehren oder sogar präventiv zu neutralisieren galt. Ein Kennzeichen historisch habitualisierter Sicherungsverhalten besteht häufig in der Unsichtbarkeit derselben im Zuge ihres praktischen Vollzugs.

Eine Ansammlung von historischen Photos in einem Aufbewahrungsschrank. Alles ist in Sepia gehalten.
Sicherungsverhalten und Geschichte
Quelle: unsplash.com

Es versteht sich mit anderen Worten für die Handelnden keineswegs von selbst, dass ihr jeweiliges Gebaren einer immunologischen Pragmatik folgt. Diese bleibt nicht selten unterschwellig und zeigt sich den Handelnden mitunter als abenteuerlicher Ausgriff und heroische Antizipation kommenden Wohlstands. Und von ebendieser nützlichen fiktionalen und dennoch effektiven Heroisierung ihres Sicherungsverhaltens hat vielleicht keine Epoche mehr „profitiert“, als die vor unseren Augen dahinscheidende Moderne.

Ihre Leitidee kann in der Übermächtigung einer als unzulänglich und bedrohlich markierten Natur aufgefunden werden. Anders und positiv gewendet könnte man sie jedoch ebensogut als ein Versuch der progressiven und universalen Einrichtung eines irdischen Paradieses mit den Mitteln von Technik und Wissenschaft beschreiben. Potentiell ist dabei der Horizont des Möglichen unabschließbar geworden: wer auf und mit Vernunft baut und die Gesetze versteht, dem setzt selbst der Himmel keine Schranke — die Erde ist ein Globus und alles
kugelförmige ist von Natur end-, grenz- und anfangslos.

Die Zeit der Aufklärung

Es ist nicht zu bestreiten, dass besagte Grenzenlosigkeit auch mit Unbehagen gewärtigt wurde. Ein Projekt wie jenes der Moderne, das sich so ganz aus Fragmenten der Zukunft gegründet hat, konnte aber den Zauderern und Zweiflern nur den Rang des Bedauernswerten und Zurückgebliebenen beimessen, weil sein stets auf Beschleunigung abzielendes „Vorwärts!“, den Rückblick unerlaubt ließ und auch des peripheren Sehens verlustig gehen musste.

Ein Pascal, der von den Unendlichkeiten, in welche die Welt nach den Entdeckungen Kopernikus gestürzt war, mit Schrecken durchzittert wurde und dessen Gedanken daher auf Beschränkung sannen, konnte im Vexierbild der Moderne nur als ungedachter Schattenteil gegenwärtig bleiben. Zu heftig, zu unbändig trieb vielleicht die Antizipation einer besseren Zukunft, die — wenigstens der antizipativen Form nach zu urteilen — den Wohlstand für alle bereit halten sollte, die Moderne in sich selbst hinein, in den Horizont einer vermeintlich positiven Unendlichkeit in der Erfüllung des Menschenwerks auf Gotteserde oder zweckentfremdetem Erdboden.

Ein großes strahlendes Licht im Universum, umgeben von vielen Sternen. Das Licht breitet sich in alle Richtungen aus.
Die Erde hat auf den Menschen gewartet
Quelle: unsplash.com

Dieser selbst war für die Moderne nur als zu durchdringender Hintergrund begreifbar; war ihr gestaltbare Bühne, Tableau, auf dem Raster und Linien zu ziehen sind, sodass objektive Ordnung erhalte, was selbst ja scheinbar mit einer bloß noch zu entziffernden, latenten Ordnung aufwartete. Die Erde hat auf den Menschen gewartet, dieser aber musste erst die Dunkelheit seiner Vergangenheit hinter sich lassen, um zu seinem eigenen Licht zu gelangen.

Nichts anderes heißt ja Aufklärung. Wo dennoch der Boden eine Rolle spielte, jenseits seiner physischen Bearbeitung, war er fundamentum und damit unerschütterlicher Grund der ratio, nicht des Fußes, auf dem leibliches Leben zu stehen hat.

Distanzierung

Die immunologische Pragmatik der Moderne resultiert folglich in einem immer
vollkommeneren Distanzierungsvorgang unter dem Zeichen des Fortschritts, der so weit geht, das man mithin dem Eindruck erlegen sein muss, man stehe außerhalb der Wirklichkeit, außerhalb jener beschränkenden Situation jedenfalls, die man Natur hieß und nicht umsonst als Oppositionsbegriff der menschlichen Kultur vorsah. Die einzige absolutistische Macht, die in diesem Szenario noch übrig blieb und für der Anerkennung würdig hielt, war sodann die technisch-rationale Großmacht des Menschen.

Von ihr hatte man sich nun bisweilen zu fürchten gelernt. Und dies gilt und galt nicht nur für Zauberlehrlinge, die reflexiv überholten, was erst auf dem Wege war, sondern auch für zwangsurbanisierte Romantiker, die durch das Geschick der Einbildungskraft die grauen Betonwände zu hintertreiben versuchten, an denen sich ihr Auge stoßen musste, sobald es zu schweifen begann. Die städtische Enge, in welcher kein Schweifen mehr möglich war und in der alles von naturwüchsigen Seelen geliebte verloren zu gehen drohte, auch sie musste mit den Mitteln des Gleichen erweitert werden.

Ein Harry Potter Kittel, mit Zauberstab über eine dampfenden Schüssel, umgeben von Kerzen.
Zauberlehrlinge und urbane Romantiker
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Hinfälligkeit der Theologie

Am Rande bemerkt: Diese Lage erledigt letztlich auch die Theodizee, falls jemand vom jenseits her noch einen Absolutismus erwartet haben sollte. Schon Kant gibt letztlich unmissverständlich zu verstehen, dass nicht Gott, sondern die Menschen selbst für den Zustand des „Hienieden“ verantwortlich sind.

Auch von oben keine Rettung, schließlich hat die Moderne das Oben (zum Behufe horizontaler Totalentfesselung) wenigstens im theologischen Sinne streichen müssen. Säkularisierung, als Kernmerkmal der Moderne, bedeutet insofern nichts anderes als die Hinfälligkeit all jener, die an einem theologischen Versorgungssystem festhalten wollen. Soviel zur selbstreferentiellen Ortsbestimmung der Moderne: sie hat den theologischen Absolutismus und den Absolutismus der Natur eliminiert und an seiner Statt die Antizipation einer unendlichen und heilsgeschichtlichen Perfektibilität gesetzt.

Ein Turm aus Stein. Zwischen den Säulen sind Menschen, die den Turm mit stützen.
Der Mensch als Fundament
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Sie muss also auf dem Fundament gestanden haben, jede situative Beschränkung und Abhängigkeit suspendieren zu können. Das ist, was sie unter Freiheit versteht und verstehen musste, solange ihr der Mensch als ein isolierbarer und letzter Zweck des Weltgeschehens erschien.

Schuld

Es ist nicht nur eine dialektische, sondern auch eine historische Einsicht, dass
Heilsbringer, wo immer sie als solche erklärt sind, von der Gefahr bedroht sind, zu Schuldträgern zu werden. Ihr vorgebliches, angenommenes oder tatsächliches Können prädestiniert sie zur Schuld.

Eine Mamorstatur von Jesus am Kreuz. Die Athmosphäre ist sehr dunkel gehalten.
Erlöser
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Wer nichts vermag, wird auch Schuld nicht zu tragen wissen. Alles spricht dafür, dass wir gegenwärtig Zeugen einer solchen Umkehrung werden, in welcher der vermeintliche (Selbst-)Erlöser an den Pranger gestellt und seiner „Schuld durch (Über-)Mächtigkeit“ überführt werden soll.

Dass sich das ereignen kann, muss aber auch bedeuten, dass sich die Grundkonfigurat ionen des geschichtlichen Koordinatensystems der Wirklichkeitsauffassung in kaum zu überschätzendem Maße verändert hat.

Was ist ein Anthropozän?

Der vom Weltklimarat eingeführte geochronologische Epochenbegriff „Anthropozän“ deutet in ebendiese Richtung. Er bildet so etwas wie einen expliziten Kristallisationspunkt der besagten Rekonfiguration: Erstens, weil durch ihn zum ersten Mal und alles andere als grundlos eine geochronologische Epoche den Namen eines einzigen Lebewesens (den des „Menschen“) führt, das für dessen Einzug verantwortlich zeichnet. Der Mensch hat mit den Mitteln der Technik kein irdisches Paradies geschaffen, sondern, so die Geowissenschaftler, die Auslöschung seines Lebensraumes und dessen unzähliger anderer Arten in Aussicht gestellt.

Die Zukunft der Moderne ist Vergangenheit, sie war einmal und jenseits der antizipativen Fiktion wird es sie nie gegeben haben. An die Stelle dieser tritt eine andere, die nur aufgrund dieses Status allerdings nicht ebenso uneinlösbar sein muss. Das Gegenteil ist wahrscheinlich, — wahrscheinlich unter dem Gesichtspunkt der Beibehaltung jener modernistischen Grundhaltung, die weiter oben flüchtig skizziert wurde.

Ein Kompas auf einem Blatt Papier, welches Börsen Kurse dokumentiert.
Zukunft ist Vergangenheit
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Diesmal aber kann es niemanden mehr geben — und hierin liegt vielleicht der gewaltigste Unterschied — der sich willentlich für ihre Realisierung einsetzen wird. Von der Zukunft der fiktiven Antizipation, die im Urteil des Weltklimarates zum Tragen kommt, kann man nur wollen, das sie uneingelöst bleibt. Sie verspricht nichts, das man versprechen wollte, weil sie Unheil verkündet, nicht Heil.

Was zeichnet es wirklich aus?

Zweitens aber zeichnet sich die epochale Entfaltung des Anthropozäns dadurch aus, dass mit ihm der Absolutismus der Wirklichkeit zurückkehrt und sich all der erträumte Distanzgewinn als Täuschung herausstellt. Wir haben die „Natur“ nie verlassen, sie war nie nur Bühne und Gestaltungsraum, sondern beschränkender wie ermöglichender Bedingungsgrund des Lebens, der in seiner Modifikation in nie gänzlich beherrschbare und unvordenkliche Dynamiken eintreten muss.

Man könnte versucht sein zu denken, es räche sich, was die Moderne hinter sich lassen und verdrängen wollte: die Erde, die Natur, die Wirklichkeit. Letztlich geschieht aber weit Banaleres. Niemand rächt sich: es handelt sich um Rückkopplungeffekte menschlicher Aktivität, die nunmal in die Aktivität unzähliger anderer Wesen unauflösbar verstrickt ist.

Die Veränderung unserer Lebensweise

Der ungeheure Erfolg des Anthropozänbegriffs verweist weiterhin und drittens auf eine radikale Umschreibung unserer Zeitauffassung: Wenn für die Moderne die Zukunft besagter offener Horizont der Selbstverwirklichung jenseits und doch durch die Natur war, ist sie im Anthropozän geschlossener Horizont nahender Selbstvernichtung diesseits und durch die Natur.

Ein Rucksack, mit einem Anstecker, der für "Fridays for Future" wirbt.
Beispiel: Fridays for Future
Quelle: unsplash.com

Die Rhetorik der Friday’s For Future-Bewegung kann hier als Beispiel dienen: Ihre Parolen („Wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft raubt“) mahnen durchweg einen Zukunftsraub durch die als verantwortungslos gekennzeichnete, ältere Generation an. Leute, die man aufgrund ihres Alters Kinder nennen muss, wollen nicht, dass eintritt, wovon sie glauben, das es zweifellos eintreten muss, wenn es so weitergeht, wie es momentan geht.

Sie drängen auf eine unverzögerte Veränderung und Verwerfung der modernistischen Lebensweise. Sie leben nicht mehr nur in historischer Zeit, ihr Zeit ist die der Geochronologie, der Weltzeit in Verschränkung ihrer Lebenszeit und der folgender Generationen. Genau das zeigt sich, wenn der Mensch zum tätigen Verwalter erdzeitlicher Vorgänge wird, und umgekehrt die Geochronologie die geschichtliche Zeit des Menschen zu determinieren beginnt.

Eine Ethik die noch keiner kennt

Ganz abgesehen von der Generationenumkehr im Verantwortungsgefüge der Gegenwart ereignet sich damit auch historisch etwas völlig Neues: es kann erstmalig keine Paradigmatik des Distanzgewinns mehr zum Anschlag gebracht, das menschliche Verhalten kann nicht mehr auf Abwehr der Wirklichkeit gerichtet werden, sondern muss in diese einsteigen, muss dem Absolutismus der Wirklichkeit Rechnung tragen, nicht indem es sich von ihm abwendet und insulare Refugien einrichtet, sondern indem es beginnt, sich ihr zu fügen, sich ihr zu integrieren, ein Teil zu werden, von dem, was es als Ganzes zu domestizieren angetreten war.

Eine Gruppe Menschen, die als Silouetten vor einem Sonnenuntergang dargestellt sind.
Der Mensch als Gattung
Quelle: unsplash.com

Im Anthropozän zu leben, impliziert mit der Hinwendung zum Absolutismus der Wirklichkeit, einen nie dagewesenen Daseinsstil, eine Ethik, die noch keiner kennt und die daher erst gefunden werden muss. In ihr wird es um das Weitergehen des menschlichen Daseins überhaupt gehen müssen, weil die Endlichkeit, nicht mehr Sache des Individuums, sondern der Gattung geworden ist. Insgleiche wird man auch um die Frage nicht herum kommen, ob der Mensch nicht einen anderen Zweck verdient hat, als sich selbst?

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